Zwischen Anspruch und Realität

Kennst du das auch?
Du stehst mit deinem Hund irgendwo im Trubel, vielleicht auf einer belebten Straße, der Hund ist aufgeregt, schaut sich um – und du sagst: „Sitz.“
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Und irgendwann wirst du innerlich unruhig, vielleicht sogar frustriert, weil es einfach nicht funktioniert! Dabei kann dein Hund das doch… ODER?

Wenn Wunschvorstellung und Realität aufeinanderprallen

Wir Menschen haben oft ziemlich klare Vorstellungen davon, wie unser Hund sich verhalten soll.
In unseren Köpfen läuft das meist wie ein perfekt der perfekte Film ab – der Hund reagiert prompt, bleibt ruhig, macht, was wir sagen.

Nur leider hat unser Hund keinen Zugang zu diesem Film:
Er weiß nicht, was wir uns wünschen.
Er weiß nicht, was für Erwartungen wir haben.
Er weiß nicht mal, dass jetzt eine Prüfungssituation für uns ist.

Und wenn dann die Realität – also der Trainingsstand – noch meilenweit von diesen Erwartungen entfernt ist, dann wird’s ganz schnell unfair.
Weil der Frust bei uns Menschen steigt. Und der Hund… steht da und hat keinen Plan, was jetzt los ist. Und wir bauen noch mehr Druck auf.

Lernen funktioniert nicht im Vakuum

Was wir oft vergessen:
Hunde lernen immer im Kontext.
Nur weil ein „Sitz“ im Wohnzimmer oder im Garten klappt, heißt das noch lange nicht, dass es auch am Bahnhof oder mitten im Hundeauslaufpark funktioniert.
Neue Umgebung, neue Gerüche, neue Geräusche – und zack:
Das, was wir für abgespeichert hielten, ist in dieser Situation für den Hund noch nicht abrufbar.

Und hier passiert oft ein Denkfehler:
Wir sagen sowas wie:
„Der weiß ganz genau, was gemeint ist!“
Aber: Wenn dein Hund etwas bisher nicht in diesem Kontext gelernt hat, weiß er es eben nicht.
Oder: Er kann’s gerade nicht leisten – weil’s zu aufregend, zu laut, zu unübersichtlich ist. Oder, und das wird oft vergessen:
Vielleicht geht’s ihm einfach nicht gut, vielleicht hat er Schmerzen oder nicht gut geschlafen – unsere Hunde sind auch nur Lebewesen die mal einen schlechten Tag haben können.

Der Fehler liegt nicht beim Hund – sondern im Trainingsaufbau

Der wichtigste Perspektivwechsel für ein faires Miteinander lautet also:
Nicht: Warum macht mein Hund das nicht?
Sondern:
Was braucht mein Hund, um das überhaupt zu können?
Oder:

  • Hat er das in dieser Situation schon mal geübt?
  • Ist die Umgebung gerade vielleicht zu viel?
  • Gibt’s körperliche Gründe?
  • Muss ich meinen Anspruch anpassen – oder das Training nochmal kleinschrittiger aufbauen?

Denn: Hunde sind nicht trotzig! Sie tun es nicht, um uns zu ärgern.
Sie können schlicht und einfach nur das abrufen, was sie wirklich verstanden und unter diesen Bedingungen geübt haben. Oder auch wofür sie gerade die Kapazitäten haben.

Euer Mosaikbild

Wenn wir wollen, dass unsere Hunde gewünschtes Verhalten auch in richtig schwierigen Situationen zeigen können, dann reicht es nicht, das einmal zu üben und zu erwarten, dass es überall klappt.
Verhalten muss wachsen – und zwar wie ein Mosaik: Stück für Stück, Steinchen für Steinchen, entsteht das große Gesamtbild.

Was ich damit meine? Wenn dein Hund in einer neuen oder aufregenden Situation zum Beispiel das „Sitz“ nicht zeigen kann, dann fehlt ihm in diesem Moment einfach ein Steinchen im Mosaik.
Und das ist kein Fehler – sondern eine Einladung. Eine Einladung, gemeinsam noch mal einen Schritt zurückzugehen, den Aufbau in diesem neuen Kontext kurz aufzufrischen, 1–2 Wiederholungen zu machen – und zack, schon ist ein weiteres Steinchen im Bild.

An dieser Stelle mag ich ganz viel Credit da lassen an meine liebe Freundin und Kollegin Agnes Lutz, die diesen wunderschönen, visuellen Vergleich mal gebracht hat.
Nehmt euch das Mosaik gerne mit in euren Alltag – und denkt dran: Nicht der Hund ist schuld, wenn was fehlt – sondern wir sind eingeladen, das Bild gemeinsam weiterzubauen.

Verantwortung beginnt bei uns

Es ist nicht der Job deines Hundes, deine unausgesprochenen Erwartungen zu erraten.
Es ist deine Verantwortung, klar, fair und vorausschauend zu Kommunizieren – und ihm den Weg dorthin zu zeigen – mit Zeit, Geduld und Wiederholungen.
Und mit dem Wissen:
Wir tragen die Verantwortung – auch für das, was (noch) nicht klappt.

Und vielleicht darfst du dir in stressigen Momenten öfter mal selbst sagen:
„Hey, der macht das nicht gegen mich. Der kann’s einfach grad nicht. Und das ist okay wir erarbeiten uns das gemeinsam!“

Fazit:

Am Ende des Tages sollte unser eigener Anspruch an uns selbst mindestens so hoch sein wie der, den wir an unsere Hunde stellen. Und wenn unser Hund eine Situation nicht schafft – ist es viel wichtiger wie wir damit umgehen und ob wir da die Verantwortung übernehmen und fair bleiben. Als jetzt unser perfekt gemaltes Bild im Kopf.